Konkurrenz zwischen Zorn und Abscheu

„Das ist die Rue de la Harpe im Frühling!“ Sie atmete den Geruch von Croissant und Kaffee, der irgendwo herkam. Waren ihre Eltern zu Besuch gekommen, wollten sie immer dort frühstücken. Tagsüber gingen sie regelmäßig in das Musée d’Art Modern oder schlenderten über die Avenue Montaigne. Im Görlitzer Park schleuderten heute die Blüten Farben. Rosafarbener und weißer Frühling auf der mit verschiedenen Grüntönen gefüllten Leinwand der Stadt.

108 Mitbewerber hatte er gezählt, ohne fertig zu werden, denn der Makler war schließlich gekommen. Sie hatten sich alle in die 27m2-Erdgeschosswohnung gedrängt, bis buchstäblich niemand mehr reinpasste und keiner sich noch umsehen konnte. Sie hatten im Treppenhaus und bis auf den Hinterhof gestanden. Der Makler hatte nicht einmal genug Vordrucke der obligatorischen Mieterauskunft dabeigehabt. Er konnte seine Eltern nicht nach einer Bürgschaft fragen. So hatte er keine Chance.

Auch der Park am Gleisdreieck warf Farben vor die Scheiben der Wagonfenster. Die Wohnung hatte ihr gefallen: neu abgeschliffene und frisch geölte Holzdielen, restaurierter Stuck, Vorderhaus, hell, erste Etage. Der Blick ging nicht direkt auf den Park gegenüber, leider, sondern auf ein Café. Sie strich sanft über die Wölbung ihres Bauchs. Oskar würde auf dem Holz, nein, auf einer Spieldecke über dem Holz liegen: strampeln, juchzen, sich zum ersten Mal drehen.

Selbst an seiner Masterarbeit schrieb er nicht weiter. Seit 5 Monaten machte er außer der Lohnarbeit nichts anderes, als eine Wohnung zu suchen. Nach 10 Jahren, die nichts wert waren, hatte er noch genau einen Monat. Eigenbedarf war die Begründung der neuen Besitzer. Kleinfamilie.

Vielleicht, vielleicht würden sie in Kreuzberg bleiben. 2 Jahre, von mehr konnten sie erst einmal nicht sicher ausgehen. So lange reichte die bisher zugesagte Finanzierung von Philippes neuem Projekt. Selbst wenn sie dann weiterziehen würden, die Wohnung bliebe ihnen ja.

Nach dem Eingriff am Morgen hatten sie den ganzen weiteren Tag nebeneinander im Bett gelegen. Dorothea hatte nicht geweint. Schweigend.

„Wir helfen dir“, hatte ihre Mutter gesagt. „Konzentriere dich auf deine Ausbildung.“ Nach den 2 Semestern in Paris war sie erst zurück nach München gegangen. Gleichzeitig hatte sie sich in London für ein Volontariat beworben. Philippe hatte schön ausgesehen, als er ihr ein Glas Sekt brachte und sie nach ihrem Eindruck von der Vernissage fragte. Shoreditch, damals vor 2 Jahren, das hatte sie nur im Winter kennengelernt. Sie hatten gelacht und angestoßen, als sie feststellten, dass auch er gerade von der Sorbonne kam.

Martha hatte Dorothea es nennen wollen. Warum, verdammt, fiel ihm gerade jetzt auf, dass seine Schuhsohlen durchgelaufen waren?! Eine Bürgschaft! Seine Mutter arbeitete halbtags als Aushilfe in einem Laden für Billigklamotten und stockte auf mit ALG II. Ihr gegenüber erwähnte er das alles gar nicht mehr: 8 Jahre ohne Urlaub, genau ein Paar Schuhe, kein Bafög, keine Restaurantbesuche, kein Kino, kein Theater und keine Konzerte. Mehr als 19 Stunden die Woche hatte er nicht arbeiten können, davon leben aber auch nicht. Sein Vater hatte in der Fabrik etwas zu viel verdient. Ihn hatte er nicht mehr gesprochen, seit der seine Mutter während ihrer Scheidung immer wieder bedroht und beschimpft hatte. Beide fragte er nach nichts mehr.

Nach der Geburt von Oskar würde sie die Elternzeit nutzen, um eine Tagung mit Mathilde zu organisieren. Wie hübsch hatte sie letztes Jahr als Trauzeugin ausgesehen. Alle waren nach Paris gekommen.

Selbst sein Studienabschlusskredit war ausgeschöpft. Nur noch die Masterarbeit fehlte, aber er wusste nicht, wie er die letzten Wochen finanzieren sollte. Die Arbeit als studentische Hilfskraft hatte er aufgegeben, um sich auf das Schreiben konzentrieren zu können. Noch einen Monat. Vielleicht einfach abbrechen. „Ich will dich für eine Weile nicht mehr sehen“, hatte Dorothea gesagt.

Dass der Makler sich so schnell meldete, wunderte sie. Aber als sie auflegte, war es entschieden. „Also erst einmal Kreuzberg, danach – wer weiß!“ Das Marie-Curie-Stipendium für Kapstadt sollte sie eigentlich bekommen.

„Neue Berliner Boheme!“ dachte er. „Finanziert von Mama und Papa ziehen sie hierher, kaufen Wohnungen und ziehen dann 1 oder 2 Jahre später weiter nach Paris, London, Tokyo, Los Angeles, Sidney.“ Die schwangere Frau ihm gegenüber machte ihn aggressiv.

Der Mann erinnerte sie an Frank. Alles Leichte, Spielerische, Unbeschwerte hatte ihm vollkommen gefehlt. Verachtung – sie hat diesen Blick ihres Vaters nicht vergessen, als sie von Budapestern sprachen und Frank anfing, von seinem letzten Aufenthalt in Ungarn zu reden. Vollkommen ahnungslos. Er war schon vor dem Semesterende zurück nach Deutschland gegangen, in irgendeine Kleinstadt, zurück in die Bedeutungslosigkeit. Schwerfällig durch das Leben stolpernd.

„Solche Menschen straucheln nie. Sie gehen direkt neben mir wie auf einer anderen Seite der Welt. Sie merken es gar nicht erst, weil das für sie normal, weil das für sie immer so ist: alles leicht. Überall!“ Vor Wut zitternd stand er auf.

Text und Photographien: Filippo Smerilli

Dieser Text ist erschienen im von Andreas Erb herausgegebenen Sammelband Christof Hamann: Gehen, Stolpern, Schreiben. Bielefeld: Aisthesis 2019. S. 157-159

Creative Commons License
This work is licensed under a Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 International License.