Idee
Meine Wohnung ist knapp 40 Quadratmeter groß. Sie besteht aus einer Wohnküche, einem kleinen Flur, einem winzigen Duschbad und einem Wohnraum, in dem ich arbeite, schlafe, lebe. Die Zimmer haben besonders große Fenster. Hier wohnen zu können, erscheint mir weder als Luxus noch als Armut. Ich liebe bis heute das Licht in den Räumen. Traurig, beunruhigt, sorgenvoll oder verletzt – hier finde ich Schutz, hier finde ich Sicherheit und Ruhe, hier ist mein Zuhause, hier will ich leben und bleiben.

Zum Normalfall ist in Berlin die Unsicherheit geworden, wie lange die eigene Wohnung bezahlbar bleibt. Für viele kommt die Unsicherheit hinzu, wie lange die eigene Arbeitsstätte noch finanziert werden kann. Denn Berlin wird verkauft: Wohnung für Wohnung, Gewerberaum für Gewerberaum, Haus für Haus, Straße für Straße, Kiez für Kiez. Tag für Tag leben die Menschen hier mit der Unsicherheit, dass die Mieten für ihre Arbeitsräume wie für ihr Zuhause jederzeit, völlig unvorhersehbar, so stark steigen können, dass sie unbezahlbar werden: die nach Norwegen verkaufte Werkstatt, das von einem englischen Immobilienkonzern übernommene Ladenlokal, das von einem deutschen Wohnungsunternehmen erstandene WG-Zimmer. Unmittelbare Reaktionen des Gefühls sind Angst, Frustration, Verzweiflung, Wut und in manchen Fällen Hass.
Städte wandeln sich, und Berlin ist eine Stadt, deren Ruhelosigkeit und kontinuierlicher Wandel ebenso abgedroschenes Klischee wie Teil ihrer Realität ist. Die Veränderungen der letzten Jahre auf dem Immobilienmarkt stellen die individuellen Entscheidungen vieler hier lebender Menschen grundlegend in Frage. Sie berühren immer stärker ihr persönliches Leben.
Im Alltag ist das zu spüren als zunehmende soziale Spaltung, die sich räumlich zeigt: Die derzeitigen Profiteur*innen der wirtschaftlichen Situation ziehen in die plötzlich hippen Innenstadtbezirke, in denen bis vor einigen Jahren niemand wohnen wollte, weil sie als vernachlässigt, dreckig, kriminell und arm galten. Doch Menschen mit wenig Geld fanden hier bezahlbaren Raum für sich. Sie müssen heute weichen und wegziehen, sei es in die Hochhauskomplexe am Stadtrand oder gleich zurück in die Kleinstädte, aus denen viele kamen und in die sie niemals zurückwollten.
Im Hintergrund dieser Entwicklungen steht an erster Stelle die Ökonomie. Sie zwingt unseren Lebensräumen ihre Struktur auf. Hier, in diese Wohn- und Arbeitsräume, für die ich mich entschieden habe, dringt die ökonomische Verfassung der Gesellschaft ein. Was macht dieser Zwang, was macht die ihm zugrundeliegende ökonomische Macht, die mit beiden viel zu oft einhergehende Gewalt mit den Menschen, die ihr ausgesetzt sind? Diese Frage steht im Zentrum der Texte auf „Kiez von unten“.
Um sie zu beantworten, spreche ich mit Menschen, die in Berlin leben und von Verdrängung betroffen sind. Ich interviewe sie und gebe anschließend ihren Erzählungen Raum. Ich will damit sichtbar machen, wie die Ökonomie vordringt in unsere Arbeitsräume, Wohnungen und Zimmer – bis sie auf unsere Haut stößt; ich will damit nachfühlbar machen, wie sie als Gentrifizierung unsere Leben durchdringt bis hinein in unsere Freundschaften, bis hinein in unser Denken und Wahrnehmen. Davon möchte ich erzählen, das möchte ich dokumentieren: in den Perspektiven der Betroffenen.
Einige kritische Stadtportraits habe ich bereits veröffentlicht. Weitere auf Interviews basierende Texte bereite ich gerade vor. Zusätzlich werde ich von Zeit zu Zeit neuere Texte veröffentlichen, die entschieden fiktional sind, also keinerlei dokumentarischen Anspruch haben, aber auf realen Erfahrungen basieren. Portraits zeichnen auch sie: von Städten, Straßen und Menschen.
Text: Filippo Smerilli
Zeichnung: Frauke Boggasch
Nachtrag: Die oben verwendete wunderbare Zeichnung von Frauke Boggasch stammt aus einer älteren gemeinsamen Arbeit. Ich liebe dieses Bild, weil es eine Spannung ausdrückt, in die man bei der Auseinandersetzung mit Gentrifizierung leicht gerät. Deutlich wird das im Ursprungstext, ihr findet ihn hier.

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