Straßen, Häuser, Fenster, Türen

Seit zwei Jahren ging er täglich spazieren. Seit zwei Jahren hatte er viel Zeit und wenig Geld. Sein Appartement war achtundzwanzig Quadratmeter groß. Es gab drei, vier Strecken, auf denen er im Wechsel immer wieder spazieren ging. Ein Weg führte durch das Viertel, wo sie gewohnt hatten, als sie Mitte zwanzig waren. Jetzt, mit Mitte vierzig, stand er vor dem Nichts. Start-ups dominierten die Branche, in der er lange gearbeitet hatte. „Es reicht nicht, gut zu sein. Es reicht nicht, der Beste zu sein. Immer noch besser als der Beste zu sein, das ist der Weg. Du bist zu alt, zu müde, zu satt.“ „Es tut mir leid“, hatte sein Ende zwanzigjähriger Chef nicht hinzugefügt. Ein Jahr nach dem Rauswurf war seine Frau schwanger geworden, drei Monate nachdem sie sich von ihm getrennt hatte und ausgezogen war, nicht von ihm.
Das etwas heruntergekommene, aber bunte Studentenviertel, in dem sie damals gewohnt hatten, war ein auf Hochglanz sanierter, begehrter Innenstadt- und Szenebezirk geworden. Schicke Cafés, Craft Beer-Bars, herausragende Restaurants, über die in Gourmetblogs geschrieben wurde, kleine Schneidereien, die neueste Mode in winzigen Ladenlokalen verkauften, Manufakturen für Schmuck und Schuhe prägten inzwischen die Straßen. Ein Haus hatte dort noch lange gestanden, das wie hinübergerettet aus der seit zwanzig Jahren verlorenen Zeit wirkte: die Fassade bedeckt mit Graffiti; im Winter klappernde alte Holzfenster, sobald der Wind etwas stärker wehte; sich dem Haus nähernd, roch es nach verbranntem Papier, Holz und Kohle, und aus dem Schornstein quoll dicker, dunkler Rauch. Gestern war er nach langer Zeit einmal wieder an dem Haus vorbeigegangen. Alle Fenster und Türen waren herausgerissen, der Putz heruntergeschlagen, Kabel und Rohre bis auf aus den Mauern ragende Reste entfernt. Vor dem Haus stand eine Frau in seinem Alter. Sie sah traurig aus. Etwas Tröstendes hatte er ihr nicht sagen können.

Nachmittags zwischen vier und fünf, das war seine Zeit. Seine verdammten Küsse waren es damals gewesen. Jeden Tag sah sie ihn vor dem Fenster vorbeigehen. Mit einer Hand hielt sie den Vorhang zur Seite. Heute würde sie sich nicht mehr in ihn verlieben. Nein! Am Fenster stehend, lachte sie bei dieser Vorstellung leise vor sich hin und hielt dabei eine Hand vor den Mund. Seine Küsse. Schon als Mädchen hatte sie so gelacht: leise und mit einer Hand vor dem Mund. Das Haus auf der anderen Straßenseite hatte inzwischen keine Fenster und Türen mehr. Manchmal stand eine ehemalige Bewohnerin lange vor dem leeren Haus. Diese verfluchten Küsse damals. Seine Kleidung wurde immer dreckiger und kaputter. Nie grüßte er. Gestern hatten sich das erste Mal seit Monaten ihre Blicke getroffen. Sie hatte kein Erkennen in seinen Augen entdecken können. Jeden Tag, wenn er von der Arbeit kam, hatte er sie geküsst. Damals hatte er noch nicht getrunken. Als sie begann, den Mund wegzudrehen, nahm er ihren Kopf zwischen die Hände, drehte ihr Gesicht in seine Richtung und küsste sie weiter auf den Mund, jeden Tag, immer wenn er von der Arbeit kam. „Es tut uns leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass wir gezwungen sind, uns von Teilen unserer Belegschaft zu trennen“, hatten sie geschrieben. Danach wurde es schlimm. Jeden Tag saß sie zu Hause und dachte spätestens ab dem Mittag an seinen Kuss beim Heimkommen. Mindestens eine Stunde lang brüllte sie und beschimpfte ihn, als sie ihn aus der Wohnung schmiss. Widerwärtig war er gewesen, als er im Hausflur stand wie geschrumpft, mit hängenden Schultern, traurig und still. Dabei hatte sie ihn einmal schön gefunden. Schließlich hatte sie sich ohne ein weiteres Wort umgedreht und war zurück in ihre Wohnung gegangen.

Das Haus hat fünf Stockwerke. Parterre, Beletage, zweites, drittes und viertes Geschoss. Dort wo die Fenster und Türen eingesetzt waren, bilden jetzt Löcher mit kantigen Rändern seine Front und die bloßen Mauern aus roten Backsteinen tragen Narben aus Fugen und verspachtelten Rissen. „1873“ steht in Metall-Lettern über dem Eingang. Das Klingelbrett ist verschwunden, vereinzelte Kabel kommen an seiner Stelle aus einer kleinen Öffnung in der Wand. Auf dem Boden liegen die zerstückelten Holztreppen und hier und da kann man durch Löcher in den Decken und Böden bis in die nächsten Etagen sehen. Der Zugang zum Keller ist verschüttet und vom Dach stehen nur noch die Balken, während alle Ziegel restlos abgetragen sind. Nicht einmal Splitter von ihnen liegen herum. Still ist es in dem Haus. Sogar der Wind streicht ohne Geräusch durch die leeren Räume, so als wage er es kaum, die nackten Wände zu berühren.

Die junge Frau am Empfang trägt ein dunkles Kostüm mit kurzem Rock. Alles an ihr erscheint dezent, adrett und hübsch. Der Anwalt wirkt wie ungefähr Mitte fünfzig, sein Haar ist noch überraschend voll und dicht und er sieht gut aus. Er reicht ihr die Hand, weist dann zum Tisch und bittet sie, sich zu setzen. Der Raum ist groß und hell, die Einrichtung minimalistisch. Ein einziges großformatiges abstraktes Gemälde hängt an der linken Wand gegenüber dem Fenster. Die Regale mit Aktenordnern und den einschlägigen Standardwerken müssen woanders untergebracht sein. Sie solle doch einmal erzählen.
Zwanzig Jahre haben sie dort gewohnt. Vor zwei Jahren sei die Sanierung angekündigt worden, also unmittelbar nachdem man das Haus verkauft habe. Im Vorfeld haben sie nichts davon gewusst. Die gleichzeitig angekündigte Mietsteigerung habe knapp fünfzig Prozent betragen. Hätte ihr Mann noch gearbeitet, vielleicht hätten sie sich sogar darauf eingelassen. Jahrelang habe er sechs bis sieben Tage die Woche für diese Agentur gearbeitet. Dann habe man bei einer wichtigen Stellenbesetzung einen neuen, skrupelloseren Kollegen ihm vorgezogen. Damals sei er bereits ein halbes Jahr krankgeschrieben gewesen. Sie haben sich die höhere Miete einfach nicht leisten können, sie selbst sei zu dem Zeitpunkt schon arbeitslos gewesen. Also haben sie versucht, sich zu wehren. Einen Monat nachdem sie der Immobiliengesellschaft geschrieben hatten, haben Handwerker ihr Haus auf den Kopf gestellt. In allen Wohnungen, deren Mieter noch nicht ausgezogen waren, seien die Küchen- und Badfenster zugemauert worden. Die Heizung habe plötzlich nicht mehr funktioniert und überall seien Wasserschäden aufgetreten. Nach drei Monaten sei ihr Mann ausgezogen. Ein halbes Jahr später habe nur noch sie in dem Haus gewohnt. Inzwischen seien alle Wohnungen leer. Zuletzt habe man überall die Fenster und Türen herausgerissen, dann den Putz abgeschlagen. Das Haus sei vollständig entkernt worden. Sie habe es geliebt, dort zu leben. Noch immer gehe sie manchmal dort vorbei, obwohl sie es kaum aushalte. An ihr vorbei sieht der Anwalt aus dem Fenster und schweigt.

Dreckige Lebensbahnen. Ihren Mund hatte er gemocht und ihre Wangen. Mit den Handschuhen ging es besser. Bitburger, acht Cent. Der Ekel war weniger geworden. Hundescheiße in Tüten, ein angebissener Döner; manchmal Maden in stinkenden Müllsäcken. Becks, acht Cent. Straßen. Jeden Tag. Immer wieder Altbauten, hier und da sechziger oder siebziger Jahre Wohnungsbau, das hieß sozialer, das hieß Betonklötze. Häuser. Die Rundungen ihrer Wangen waren schön gewesen, sie hatten genau in seine Hände gepasst. Einmal hatte ihn eine Ratte in die Hand gebissen, als er weggeworfene Kleidung durchwühlte. Mineralwasser, Plastik, nullkommasieben Liter, fünfzehn Cent. Fenster in endlosen Reihen. Gardinen gab es kaum noch heute. Manchmal bewegte sich ein Vorhang leicht zur Seite. Wochen mit sechs Tagen, Wochen mit sieben Tagen, jeden Tag zwölf, dreizehn, vierzehn Stunden Arbeit. Bier, acht Cent. Sein Spiegelbild unrasiert, die Kollegen immer gepflegt. Damals die Nächte auf Schlafsofas, auf Luftmatratzen und mit Wolldecken; die Wochen, bis er wieder eine eigene Wohnung gefunden hatte. Ihr Mund hatte ihm so gut gefallen. Warum hörte dieser Köter dort vorne nicht auf zu bellen?! Er konnte sich nicht mehr erinnern, wo er damals mit ihr gewohnt hatte. Morgens Kaffee mit Grappa, mittags Bier und Wein, abends wahllos alles. Wochen? Monate? Jahre? Cola, Glasflasche, ein Liter, fünfzehn Cent. Türen fehlten in diesem Haus, alles fehlte dort: Putz, Fenster, Menschen. Von heute auf morgen hatte er gehen sollen. Vor dem Haus stand eine traurige Frau. Sie hat so schöne Lippen. Gesagt hatte er nichts. Und auch heute fiel ihm nichts ein.

Text und Photographien: Filippo Smerilli

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Schliff. Literaturzeitschrift. Bd. 6: Alltag. Hg. v. Kathrin Schuchmann u. Christopher Quadt. München: edition text + kritik 2017. S. 83-86.

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