„Das »Dummdidumm« ist weg.“

Sonne und Staub, Frühling und Lärm. Im Hof des Wohnblocks ist der Asphalt aufgerissen. Die danebenliegende Wiese des weitläufigen Gartens mit Bänken verschwindet zu einem großen Teil unter mit Baggern aufgeworfenen Erdhügeln. Ein Arbeiter, einen Sack mit Haftputz auf den Schultern, schlurft über den Hof; ein anderer wirft die Kreissäge an und zieht kreischend einen Balken über das sich rasend schnell drehende Blatt. Drumherum hämmern, bohren und schleifen andere Männer. Einige Haustüren stehen offen. Sie sind an zahllosen Stellen verkratzt, abgeschabt, aufgeplatzt. Überall gehen Arbeiter ein und aus. Im Treppenhaus riecht es nach Kochen, Keller und Feuchtigkeit. Ungefähr drei Generationen Mieter*innen haben ungeordnet einzelne, grundverschiedene Briefkästen anscheinend dort aufgehängt, wo an der Wand gerade Platz war.

„Die Wohnung war grauenhaft. Das allerletzte Loch. Aber sie war günstig“, sagt M. über den Einzug in die Topsstraße in Prenzlauer Berg. Das war 2004: 58 m2, Ofenheizung, Badeofen, 200 Euro Miete. Heute ist M. Mutter eines 12-jährigen Sohnes, alleinerziehend, 44 und die Miete doppelt so hoch. Zusätzlich droht ihr nach der gerade laufenden Sanierung der Häuser und Wohnungen eine Mietsteigerung von 76 %. Den meisten anderen im Block ist sogar eine Mietsteigerung von mehr als 80 % angekündigt. Seit 2016 prozessiert M. in mehreren Gerichtsverfahren gegen die Deutsche Wohnen, die die Wohnhäuser 2014 übernommen hat. Laufende Verfahren, Petitionen, Briefwechsel: das alles hat Spuren in ihr hinterlassen. „Ich mag alles gern, was schön ist“, sagt sie an einer anderen Stelle.

„Hauptberuflich haben wir uns die Sonne auf den Bauch scheinen lassen.“

Ihre Augen tränen, als wir uns zum Gespräch treffen. Doch sie weint nicht. Es ist eine körperliche Reaktion, die neu ist, die sie bis dieses Jahr nicht kannte. Und sie wird noch über andere körperliche Reaktionen sprechen. Aber ihre Erzählung von ihrem Weg nach Berlin beginnt sie woanders: „Wir hatten Trinkwasser von einer Quelle. Das war das beste Wasser überhaupt. Wir konnten in einem kleinen See baden und uns mit dem Wasser duschen. Ein Mal in der Woche haben wir von einem Markt alles geholt, was übrig war. Wir haben davon gelebt wie Bolle und haben uns hauptberuflich die Sonne auf den Bauch scheinen lassen. Das war einfach schön. Es war eine totale Freiheit und Überfluss. Das war die beste Zeit in Bezug auf Geld: als wir gar keins hatten und auch keins brauchten.“ So erzählt M. von ihrer Zeit mit Anfang zwanzig in Südspanien. Gemeinsam mit ihrem damaligen Freund war sie dorthin gereist. Mehr als ein Jahr lebten sie im Süden. „Meine Freiheit, das war mir immer das Wichtigste“, sagt sie. In diesem Moment ist das Glück, von dem sie erzählt, spürbar.

„Die sind nicht froh!“ urteilt sie später über die anderen, die mit den großen Häusern, die mit dem Geld. Heute ist M. engagiert in zwei Mieter*innen-Initiativen. Vorher war sie zeitweise Immobilienmaklerin. Das erscheint vor dem Hintergrund ihrer Geschichte wie ein Unfall. Nach Spanien wurde sie auf Umwegen in Berlin zuerst Tischlerin. Parallel bildete sie sich fort. „Ich habe immer etwas gesucht, wofür ich wirklich brenne.“ Sie glaubte genau das in der Geomantie gefunden zu haben. Also machte sie darin eine zweite Ausbildung, unterrichtete später an dem Institut, wo sie gelernt hatte. Anfangs hat sie gedacht, so schließt sich ein Kreis: einen guten Ort suchen, ein Zuhause finden, dabei hat sie Menschen helfen wollen, mit der Geomantie wie als Maklerin. Sie verdiente eine Zeit lang gut und kaufte ein Haus in der Uckermark. Dort hätte sie gerne zusammen mit anderen gewohnt und gelebt. Doch dazu kam es nicht mehr.

„Ich hatte nur noch mit Angst, Geiz und Gier zu tun.“

2014 wurde alles anders. In diesem Jahr ist sie ins Straucheln gekommen. Die Niedrigzinspolitik im Gefolge der Wirtschaftskrise hat ihre Arbeit als Maklerin komplett auf den Kopf gestellt. „In dieser Zeit ist das Ganze für mich total schief geworden. Vorher war es so, dass ich Leuten geholfen habe, ein neues Zuhause zu finden. Und das war schön. Jetzt sollte ich plötzlich 2 ½ Zimmer aus ehemaligem Sozialwohnungsbau für 300 000 Euro verkaufen.“ Es hatte schließlich nur noch internationale Käufer*innen gegeben, denn im Vergleich zu London, Paris, New York war Berlin tatsächlich noch immer billig gewesen. „Mein Beileid an die Leute, die Geld haben. Sie wussten nicht mehr, wohin damit. So eine Angst. Angst, Geiz und Gier. Mit diesen drei Faktoren hatte ich nur noch zu tun. Das war grauenhaft. Ich fand das alles nur noch widerlich.“ M. bemühte sich zwar jeden Tag, verdiente aber über anderthalb Jahre nichts mehr. Zuerst lebte sie von Ersparnissen, dann musste sie ihr Haus in der Uckermark verkaufen. „Das hat mir das Herz gebrochen. Denn dort hatte ich eigentlich meine Zukunft gesehen.“ Und schließlich musste sie zum Jobcenter. Zusätzlich gab es Meinungsverschiedenheiten, Streite und zuletzt einen Bruch mit der Schule für Geomantie.

Und dann kam 2016 ein Starkregen in Berlin. Das Wasser stieg aus der Kanalisation bis in ihren Keller. Zwei, drei Tage später sah der aus wie eine „Marslandschaft“: „Zentimeterdicker Schimmel in allen Farben auf allen Wänden und Holzverschlägen: Weiß, Schwarz, Grün, Lila … richtige Gewächse … und das hat gestunken! Und ich wohne genau obendrüber.“ Sie wusste nicht, wo sie die Kohlen zum Heizen lagern sollte. Den Sachbearbeiter*innen der Deutsche Wohnen sei das egal gewesen. Niemand habe sich gekümmert; selbst das Gesundheitsamt habe sich für nicht zuständig erklärt. „Kopfschmerzen, Übelkeit, Schwächeanfälle und ständig Herzrasen: Da bin ich so richtig in die Knie gegangen. Ich konnte zeitweise nicht mehr aufstehen.“ Gleichzeitig spitzten sich Auseinandersetzungen mit dem Jobcenter zu, das sich geradezu geweigert habe, auch nur ihren Antrag, den einer Selbständigen, auf Grundsicherung zu bearbeiten. Monatelang hätten sie das hinausgezögert. M. wehrte sich. „Ich bin da immer wieder hingegangen. Ich war so verzweifelt, ich bin dort in Tränen ausgebrochen. Ich habe geheult, ich habe die angefleht: »Ich bin alleine mit Kind. Ich verliere gerade meine Wohnung. Wir haben nichts mehr zu essen. Wir haben kein Geld mehr. Helfen Sie mir!«.“ Aber erst als sie eine Petition verfasst und publik gemacht hat, ist Bewegung in die Sache gekommen. Erst dann hat man ihren Antrag bearbeitet.

Doch daraus folgte kein einfacher Sieg. Das wird deutlich, als M. von den Folgen der langdauernden mehrfachen Auseinandersetzungen an zwei Fronten erzählt: „Ich hatte krasse Angstzustände. Das kannte ich gar nicht von mir. Ich war an einem Punkt, wo ich meinen Briefkasten nicht mehr öffnen konnte, weil ich so krasse körperliche Reaktionen hatte. Meine Hände haben so gezittert, dass ich den Briefkastenschlüssel nicht mehr reinstecken konnte. Es ging einfach nicht mehr. Ich musste dann immer eine Freundin bitten, mir zu helfen.“ M. spricht von dieser schlimmen Zeit in der Vergangenheitsform; und tatsächlich steht sie heute offensichtlich an einem anderen Punkt. Und doch ist es nicht so, als wären keine Spuren davon zurückgeblieben.

„Da habe ich das Vertrauen verloren. Da ist irgendwas bei mir kaputtgegangen.“

„Was ist durch diese jahrelangen Kämpfe die markanteste Veränderung für dich im Alltag?“ „Es ist, dass sich bei mir alles im Körper niederschlägt. Vor allem als ich zum Jobcenter gegangen bin, hatte ich das Gefühl, da ist irgendwas in mir zerrissen. Da habe ich auf einer ganz tiefen Ebene das Vertrauen verloren. Also in diesen Staat. Da ist irgendwas bei mir kaputtgegangen. Seitdem wirft mich alles aus der Bahn, die kleinste Kleinigkeit. Peng! Krank. Und ich kann das gar nicht mehr ändern. Das habe ich seit dem ganzen Stress, dass ich körperlich so stark reagiere. Alle Systeme sagen: »Stopp!«“

M. hustet und putzt sich die Nase wie schon die ganze Zeit immer wieder. Und dann macht sie eine Wendung. Sie spricht von den „chaotischsten Zuständen“ damals auf dem Jobcenter, von falschen Auskünften, von Einschüchterungsversuchen der Deutsche Wohnen: „Deshalb denke ich: Nein, wir brauchen einen funktionierenden Staat, von dem Du wahrheitsgemäße Auskünfte bekommst; wo Leute arbeiten, die gut bezahlt werden und die wissen, was sie tun. Das haben wir nämlich alles nicht. Staatliche Institutionen, wo du als Bürger einfach hingehen und auf die du dich verlassen kannst.“ M. scheint bewusst, dass ein Staat so viel mehr bedeutet als eine Hilfe für Menschen, die als einzelne gegenüber Institutionen wie Konzernen oft Ohnmacht empfinden: „Früher habe ich immer gedacht: Alles, was Staat ist, ist scheiße“, sagt sie. Und anschließend denkt sie weiter in die andere Richtung: „Das sehe ich heute gar nicht mehr so. Ich finde grundsätzlich die Rechtsstaatlichkeit sehr gut. Wir brauchen irgendwas, worauf wir uns einigen und was auch gilt. Ich finde, dass wir ein extrem gutes Grundgesetz haben. Auf das wir stolz sein können. Ich sehe aber auch, dass das überhaupt nicht mehr gilt. Es wird nicht durchgesetzt.“ Und diesen Punkt bringt sie ausdrücklich mit ihrem heutigen Engagement „für die Rechte der Mieter, die überhaupt nicht eingehalten werden“, für ihren Kampf gegen Konzerne wie die Deutsche Wohnen in Verbindung: „Das ist mein Grundanliegen: Das wir unsere gesamte Gesellschaft wieder auf den Boden des Grundgesetzes stellen. Und mein Erleben ist, dass das Grundgesetz für die ganzen Konzerne nicht mehr gilt. Die schalten und walten, wie sie wollen. Und das wird von der Politik auch noch unterstützt.“ M. schafft es, in wenigen Sekunden von einem Plädoyer für mehr Staat zur Kampagne Deutsche Wohnen & Co enteignen zu kommen.

„Jetzt bin ich eine gefährliche Gegnerin.“

Was ihre Motivation für den fortgesetzten Kampf gegen die Deutsche Wohnen ist? „Der Kern meines Engagements ist mein Muttersein. In was für eine Welt schicke ich mein Kind?!“ Das ist für sie die entscheidende Frage. Wieder hustet M. und putzt sich die laufende Nase. Vor ein paar Minuten sprach sie davon, wie es war, Mutter zu werden: „Das verändert ja wirklich alles. Ich bin immer ein extrem freiheitsliebender Mensch gewesen. Das war mir immer das Wichtigste: meine Freiheit. Und da hatte ich auch wirklich erstmal Schwierigkeiten mit dem Muttersein. Wegen dieser Diskrepanz in mir. Ich habe einen ganz starken Mutterinstinkt. Aber wo bleibe dabei ich? Mit meinem ganzen Freiheitsdrang? Das war immer ein Konflikt.“ M. verbindet Freiheitsliebe, Idealismus, Widerstand und, wie sie sagt, „Spiritualität“ mit Gesetz, Staat, Kalkül und Rationalität; sie bringt Hässlichkeit und Schönheit ebenso zusammen wie Schwäche und Kraft.

Letzteres wird deutlich, als sie auf eine andere Motivation für ihr Engagement zu sprechen kommt: „Als das alles passiert ist, kam zuerst ein totaler Rückzug: Rückzug, Rückzug, Rückzug. Ich konnte alles nicht mehr machen. Und irgendwann ist das umgekippt, so dass ich dachte: So. Von jetzt an wird zurückgeschossen. Ich stand mit dem Rücken zur Wand. Und dahinter nur noch Abgrund. Auch nur einen Schritt weiter rückwärts, das wäre nicht gegangen. Also musste ich mir den Weg nach vorne irgendwie wieder freikämpfen. Das hat mich massiv verändert. Ich bin überhaupt nicht mehr der Mensch, der ich war. Das »Dummdidumm« ist weg. Aber dafür bin ich jetzt ein gefährlicher Gegner.“ Sie lacht, vielleicht das erste Mal während unseres Gesprächs unbeschwert. „Don’t mess with me. Leg dich mit mir nicht an. Ich schieße aus allen Rohren zurück. Und ich kenne inzwischen die Rohre. – Und irgendwie stimmt das auch nicht.“ Viele Begegnungen, viele Ereignisse können sie noch immer aus der Bahn werfen. Und Gegnerin will sie eigentlich gar nicht sein, schiebt sie hinterher: „Ich will eigentlich viel lieber die Wahrheit sagen. Über das, was ich sehe.“

Text und Photographien: Filippo Smerilli

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